Als Deutschland im September 2015 Tausenden von Flüchtlingen die Einreise aus Ungarn erlaubte, war das eine große Geste, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Unter unmenschlichen Bedingungen hatten die geflüchteten Menschen, unter ihnen viele Familien mit kleinen Kindern, am Keleti, dem Budapester Ostbahnhof, ausgeharrt. Ungarn wollte sie nicht, kümmerte sich nicht.
Für Katrin Göring-Eckardt, Fraktionssprecherin Bündnis 90/DIE GRÜNEN im Bund, war das ein besonderer Tag, der Ort des Geschehens ein besonderer Ort: „Ich bin in der DDR aufgewachsen. Keleti war für uns ein Symbol für Freiheit. Hier konnte man ausgebürgerte Ostdeutsche wiedertreffen, Freunde, Familie wiedersehen. Das Elend der Menschen dort im letzten Jahr mitzubekommen, das hat mich sehr berührt.“
Wir vertreten die offene Gesellschaft – und wir sind viele!
Dann kamen die Flüchtlinge in München an, es herrschte Willkommensatmosphäre. Katrin sah im TV Berichte, unter anderem einen aus Saalfeld, einem Städtchen nahe ihrem thüringischen Heimatort Friedrichroda: „Zwei Leute wurden interviewt, ich kannte sie von vielen Veranstaltungen in Saalfeld. Es waren immer grüne Gegner, hatten alles zu kritisieren. Ich bekam Angst und dachte: „Bitte nicht, was sagen die zwei nun zu diesem Thema.“ Das Mikro ging auf, die beiden sangen: We are loud, we are here, refugees are welcome here. Auf reinstem Thüringisch. Das hat mich wahnsinnig gefreut – alle beide waren bereit, bei der großen Unternehmung „Integration“ zu helfen und sie tun das bis heute.“ Augenzwinkernd fügt sie an: „Heute sind wir übrigens Freunde.“
10 Mio. Menschen haben seitdem die Hilfe in der Integration zu einem Teil ihres Lebensinhalts gemacht, das ist Mainstream! „Nicht die paar nervenden AfDler“, wie Katrin es ausdrückt. „Diese 10 Millionen bestimmen dieses Land! Nicht die Gegner der Homosexualität, die 50er Jahre-Anhänger, die großen Negierer des Klimawandels“, so nimmt die Fraktionschefin kämpferisch Stellung zu der Frage nach dem Umgang mit der AfD. „ Die müssen wir stellen, die werden wir stellen. Wir sind Vertreter der offenen Gesellschaft. Diese Herausforderung nehme ich gerne an.“
Erneuerbare, Argrarwende, Weltklimapolitik, Integration
Viele weitere Themen sprach die designierte Spitzenkandidatin bei ihrem Besuch in Aachen am 2. November an. Als Hauptthemen für den anstehenden Wahlkampf nannte sie: Die Erneuerbaren Energien, Wandel in der Agrarpolitik, Weltklimapolitik, Integration. „Wir verursachen Millionen Klimaflüchtlinge. Wir müssen mit aller Konsequenz die Klimakrise bekämpfen, die eine AfD ja sogar komplett leugnet. Dabei ist das DIE entscheidende Frage des nächsten Jahrzehnts! Die GroKo muss abgelöst werden. Sie ist schon lange keine funktionierende Koalition mehr, führt unsere Gesellschaft nicht zusammen.“
Das wäre wichtiger denn je, denn unsere Gesellschaft produziert abgehängte Menschen. Menschen, die glauben, auf sie käme es nicht an, sie hätten keine Aussicht auf Erfolg. „Drei Mio. Kinder leben bei uns in Armut, haben keine Chancen. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Wie können wir helfen? Bildung ist ein Schlüssel, Aufstiegsmöglichkeiten werden bedingt durch gerechte Bildungschancen. Aber auch durch eine gute Infrastruktur, z.B. in Schulen, besonders in sozial benachteiligten Gegenden.“
Die folgende Diskussion wurde moderiert von Sabine Göddenhenrich, Parteisprecherin des OV Aachen und Eva Malecha, Landtagskandidatin der Städteregion und aktiv in der GRÜNEN Hochschulgruppe. Viele Fragen gingen an Katrin, die wir hier zusammenfassen wollen:
Sicherheitspolitik , Syrien, Putin
„Den Krieg in Syrien können wir Europäer nicht militärisch lösen. Andere Mittel spielen eine größere Rolle, zum Beispiel die Entwicklungshilfe. Syrien und die umliegenden Länder brauchen mehr und verlässliche Unterstützung. Doch im Bundeshaushalt wird nicht 1:1 nach Bedarf geplant, sondern immer nur bröckchenweise Geld bewilligt. So ist keine langfristige Planung für Hilfsorganisationen möglich. Wir müssen unsere Verhandlungen anders aufstellen, es gibt keine gemeinsame europäische Strategie: Jeder europäische Außenminister versucht seinen eigenen Weg zu gehen. Das macht uns schwach, auch Putin gegenüber! Wir müssen gemeinsam mehr Druck auf Russland ausüben, auch auf Länder wie Saudi Arabien. Der dortige Wahabismus führt in Syrien zu mehr Konflikten.
Türkei
„Angesichts der Dinge, die passieren, kann man nur sagen: In der Türkei gibt es keine Demokratie mehr. Wir liefern uns Erdogan aus, haben Angst davor, dass er die Grenze aufmacht, wenn ihm danach ist. Es ist ja auch so, dass immer noch genauso viele Flüchtlinge ertrinken wie früher, wir reden nur nicht mehr darüber.
Wir dürfen uns von Erdogan nicht erpressen lassen. Wir müssen auf der einen Seite zwar mit ihm verhandeln, aber auf der anderen Seite mehr Druck ausüben. Es darf nicht sein, dass unsere eigenen, türkischstämmigen Politiker massiv bedroht werden!“
Clinton oder Trump?
„Michelle Obama, wenn wir es aussuchen könnten... ihre Rede gegen Trump war großartig und sie hat klargestellt, dass Trumps verbale Aussetzer und Ausrutscher keine „Kavaliersdelikte“ sind, sondern es geht um echte Verletzungen, gegen Frauen, gegen Menschen mit Handicaps, gegen Ausländer und viele andere Gruppen in der Bevölkerung.“ Clintons Politik beruhige zwar auch nicht gerade, sei aber angesichts Trump das kleinere Übel: „Allein die Vorstellung, ein Donald Trump könne über Atomraketen befehligen!“
Grundeinkommen, Mindestlohn, Gesundheit
„Eine Reihe von Menschen sind nicht an Mindestlohn angeschlossen, weil sie als selbstständig gelten, aber sehr wenig verdienen, keinerlei Absicherung, zum Teil noch nicht mal eine Krankenversicherung haben. Das muss geändert werden. Das Grundeinkommen ist gut für manche (z.B. freischaffende Künstler mit sehr unregelmäßigem und geringem Einkommen), aber andere sind damit abgehängt, brauchen mehr Unterstützung als Geld. Zum Beispiel mehr Hilfestellung bei Behördengängen, bei der Bildung und Ausbildung, bei der Jobsuche…. Thema Gesundheit: Zur Bürgerversicherung sage ich ja, die Zweiklassenmedizin wollen wir nicht.“
Leiharbeit, Sicherheit der Renten
„Die Leiharbeit war dazu gedacht, Leute ohne Chance in den Arbeitsmarkt zu bekommen. Dieses Instrument ist sehr missbraucht worden und wird es noch. Wir wollen für Leiharbeit den gleichen Verdienst wie für die Stammbelegschaft. Dann erhält man zwar die Flexibilität, aber Ungerechtigkeit wird an der Stelle beseitigt. Zur Rente: Altersarmut wird zunehmen, vor allem durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, durch durchbrochene Erwerbsbiografien. Private Vorsorge funktioniert nicht, vor allem wegen der Problematik niedriger Zinsen. Hier kann ein staatlicher Fonds vorfinanzieren. Wir müssen weiter die Erwerbstätigkeit von Frauen fördern, durch mehr Kinderbetreuung und alles, was dazu gehört. Das Absinken des Rentenniveaus muss gestoppt werden.“
Verlust von Artenvielfalt, Biotopen
„Hierzu gehört das bedeutsame Thema Landwirtschaft und Agrarwende: Das ist wichtig für jeden einzelnen von uns. Wir haben neun grüne MinisterInnen in den Bundesländern, die sich diesen Themen widmen. Jeder kann und muss seine persönliche Lebensweise hinterfragen. Politisch kann man für Strukturveränderungen sorgen. Schlagworte: Antibiotika, Haltungsbedingungen von Tieren, Grenzwerte, Kennzeichnungspflicht, Verbraucherschutz.“
Mögliche Koalitionspartner
„Den Wahlkampf führen wir ganz allein nur für uns, und das wird großartig. Es gibt keine selbstverständlichen Koalitionen im Bund, wir müssen stark sein und sind das auch: SPD/CDU haben noch nicht mal eine/n Kanzlerkandidat/in. Bei GRÜN sind es gleich vier. Wir müssen ganz klar machen, wofür wir stehen: Agrarwende, Kohleausstieg, Einwanderungsgesetz, ein vernünftiges Integrationsgesetz, Sicherheitspolitik. Dafür treten wir ein, egal mit wem wir am Tisch sitzen. Wir wollen unser Grünes Selbstbild klar transportieren. Jede Koalition wird schwierig, aber: Wir wollen dabei sein. Es wäre besser, wir sind dabei.“
Pegida
„Letzte Woche war ich in Dresden, davor in Freital. Die Leute stemmen sich gegen Pegida und Co., aber sind unglaublich erschöpft. Sie haben es dort sehr schwer. Oft werde ich gefragt: Warum gibt es in Ostdeutschland so viele Ressentiments? Darauf gibt es keine einfachen Antworten, aber einen Erklärungsversuch: In der DDR gab es keinerlei Aufarbeitung des NS-Regimes. Es gab keine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Unrecht, mit den Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Was es gab, war „verordnete Antifa“. Über diese Themen wurde nicht geredet. Aber: Deshalb Bundespolitiker öffentlich an Galgen hängen? Warum stoppt die Polizei Sachsen solche Leute nicht? Das kann und das muss man ahnden. Hier geht es um die Demokratie selbst!“
Am Ende ein Appell
„Wenn ich „Politikverdrossenheit“ höre, frage ich: was ist das eigentlich? Klar, die AfD aktiviert „Politikverdrossene“. Aber das können wir auch nutzen für uns und sagen: es kommt auf DICH an. Es kommt auf jeden einzelnen an. Wir dürfen wählen gehen! Jetzt kommt es mehr denn je darauf an, mitzumachen. Auch in der Partei, als Mitglied. Für unsere freie Gesellschaft.“
Denn um Freiheit zu kämpfen, das kennt sie aus Zeiten der DDR. Aus dem gleichem Impuls geht sie in die jetzige Auseinandersetzung um die Themen Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Migration. „Wir brauchen viele Veränderungen, aber wir haben auch den Mut dazu. Wir wollen ein offenes Europa erhalten, uns hinwenden zur Welt, nicht abwenden. Das geht nur gemeinsam.“ Und sie beschließt den Abend mit dem folgerichtigen Gedanken: „Europa ist nirgends besser aufgehoben als hier bei euch in Aachen!“