Der Saal im Centre Charlemagne war voll, das Publikum lauschte in konzentrierter Stille den Äußerungen Jürgen Trittins. Schließlich ist der Mann nicht irgendwer: Der ehemalige Bundesumweltminister ist heute Abgeordneter des Bundestages, dort Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, stellvertretendes Mitglied in drei weiteren vorwiegend außenpolitischen Ausschüssen. Mit seinem neuen Buch „Stillstand made in Germany“ möchte Jürgen Trittin eine Paradoxie des Wahlverhaltens der Deutschen aufdecken und für einen Aufbruch plädieren.
Die Mehrheit der Deutschen will mehr Gerechtigkeit, mehr Klimaschutz, mehr Bildung. Zu viel Ungleichheit finden wir schlecht, wir halten die Verteilung des Wohlstandes für ungerecht und stehen einem ungezügelten Markt kritisch gegenüber. Wir finden, dass Wachstum nicht alles ist, und halten den modernen Finanzmarkt für ein großes Übel. „Am Wahltag aber wählt die Mehrheit genau das Gegenteil, nämlich rechts, obwohl sie links bekennt“, klagt der bündnisgrüne Spitzenpolitiker Jürgen Trittin. Das Ergebnis ist ein „Stillstand Made in Germany“: ein Land, in dem sich nichts verbessert. Die Gesellschaft bleibt tief gespalten, politisch blockiert. Deutschland investiert nicht in die Zukunft und lebt von der Substanz.
Warum verzeichnen die GRÜNEN Wählerverluste, obwohl sie doch eigentlich für Veränderung stehen? Warum siegen die kurzfristigen über die langfristigen Interessen? Diese Fragen will er in seinem Buch beantworten. Dazu gibt er eine Art Zustandsbeschreibung von Deutschland zur Halbzeit der schwarz-roten Koalition. „Deutschland im Jahr 2014. Die Wirtschaft brummt. Uns geht es gut, jedenfalls den meisten von uns“, beginnt sein Buch. „Damit das so bleibt, haben wir die Große Koalition gewählt. Politischer Streit ist abgemeldet. Alles soll so bleiben wie es ist. Wir haben nur noch eine 20-Prozent-Opposition. Es ist das Biedermeier 2.0 – Stillstand made in Germany.“
Aufbruch: Es kann nicht so weitergehen wie bisher
Dabei haben wir gar keine Zeit für diesen Stillstand, denn es geht auch in Zukunft um das große Ganze: Die „große Transformation“ und das Projekt eines „ökologischen Materialismus“. Die GRÜNEN haben im Wahlkampf den fundamentalen Fehler gemacht, sich im Klein-Klein von Reformkonzepten zu verlieren. „Doch die Öko-Alarmsirene, die verschärfte Rhetorik, das Predigen, das immer gleiche Wiederholen der Voraussagen, all das scheint wenig zu fruchten. Sie langweilen, sie nerven, sie ermüden sogar“, befindet der Buchautor.
Als zentrale Handlungsfelder nennt er: Den Klimawandel und die globale Ungerechtigkeit. Der Mensch habe das Leben auf dem Planeten derart massiv verändert, dass es keine unberührte Natur mehr gibt – und damit viele Lebensformen unwiederbringlich ausgerottet. 0,8 Grad Erderwärmung seien heute bereits Fakt. Der Lebensstil, der sich von Europa in die Welt verbreitet, erfordere viel zu viele Rohstoffe. „Wir leben deutlich über unseren Verhältnissen. Wir beanspruchen mehr als das Doppelte von dem, was unsere Böden hergeben.“ Fleischkonsum, Palmölproduktion, Wasserknappheit tragen zu einer Verschärfung der Situation bei.“
Nun fragen sich die Deutschen: Was hat das mit mir zu tun? Und man verliert sich in der unsicheren Gewissheit: Irgendwann wird alles schon in die richtige Richtung laufen. Jedoch: „Unsere Ressourcen sind begrenzt und aus Knappheit folgt nicht automatisch eine Änderung der Produktion“, resümiert der GRÜNEN-Politiker. „Unsere Konsumgewohnheiten tragen im Wesentlichen zu einer Verschärfung der Krisen bei. Für diese Herausforderungen muss es Antworten geben. Wir müssen den Stillstand in Deutschland auch deshalb überwinden, um unsere externe Abhängigkeit von Rohstoffen zu mindern, die uns nicht nur viel Geld kosten, sondern deren Nutzung auch unser Klima aufheizt und unsere Lebensgrundlagen schädigt. Denn von den Auswirkungen ist Deutschland unmittelbar betroffen, was die aktuelle Flüchtlingssituation bestätigt. Als reiche Exportnation sind wir dazu gezwungen uns mit globalen Risiken auseinander zu setzen“, so der Politiker.
Eine Chance: Die Klimakonferenz in Paris
Eine Chance sieht der Spitzenpolitiker in der Klimakonferenz in Paris. „Die Zeichen stehen gut, um zu einem Ergebnis zu kommen. Die USA blockieren nicht mehr wie noch beim Kyotoprotokoll und auch China hat seine Bereitschaft zur Treibhausgasreduktion signalisiert.“
Deutschlands Zukunftsfähigkeit sieht er hingegen zwiegespalten: „Deutschland bietet zwar einen stabilen Rahmen für Investitionen. Jedes Jahr wurden zu Zeiten von Rot-Grün durch das EEG 20 Mrd. in erneuerbaren Strom investiert und durch die Senkung der Produktionskosten um 80%, die erneuerbaren Energien finanzierbar für die Welt gemacht. Doch der Stillstand schlägt sich auch im Ausruhen der GroKo wieder. Der Ausbau der Erneuerbaren wird nicht weiter vorangetrieben und es gibt Subventionen für Diesel-Fahrzeuge anstatt für den Ausbau der Elektromobilität. Wir schummeln uns mit alter Technik durch“, so Trittin. „Wir brauchen eine moderne, zukunftsfähige Industriepolitik mit mehr Innovationen, damit Deutschland weiterhin bestehen kann.“
Der Politiker aus Berlin zeigt auf, dass es auch anders geht. Ein anderes Land ist möglich, und es liegt im Interesse der Menschen: Mehr Gerechtigkeit und mehr Nachhaltigkeit bieten Vorteile für Deutschland und Europa in einer globalisierten Welt. „Dieser Umbau braucht Mut – trauen wir uns!“ so sein Apell. Gleichgültigkeit aufbrechen für eine stärkere Demokratie. Ein Plädoyer für langfristiges Denken. Ein lesenswertes Buch das zum Nachdenken anregt.
Jürgen Trittin: „Stillstand made in Germany. Ein anderes Land ist möglich!“ 255 Seiten. 19,99 €. Gütersloh 2014.
Autorin des oben stehenden Artikels: Melanie Seufert