Wie leben die Menschen in Fukushima heute – Journalistin Yoko Kawasaki über die Zeit nach dem Super-GAU. Oliver Krischer MdB schlägt Bogen zum benachbarten belgischen Atomkraftwerk Tihange.
Die Umweltjournalistin Yoko Kawasaki zeichnete am vergangenen Donnerstag bei einem Vortrag im GRÜNEN Zentrum in Aachen Bilder, die man sich kaum vorstellen kann: Verseuchte Erde, verstaut in Tausenden von Plastiksäcken – sie lagern in Sammelbereichen inmitten von Wohngebieten, oftmals direkt neben Kinderspielplätzen und Schulen. „Wandermüll“ nennt Kawasaki das, denn der strahlende Müll wandert völlig ungeschützt einfach nur von A nach B. Winzige Wohncontainer, genannt „Kaninchenställe“ in Städten, in die ganze Bauernfamilien umgesiedelt wurden. Dekontaminationen von atomar verseuchten Gebäuden mit Hochdruckreinigern, das giftige Wasser fließt direkt in den Boden. Ein hilfloser, überforderter Staat, eine unfähige, korrupte Verwaltung, ein mächtiger und allgegenwärtiger Stromkonzern.
So stellt Yoko Kawasaki die Situation in der Präfektur Fukushima heute dar, in dessen Bereich das Atomkraftwerk Fukushima I liegt. Hier kam es am 11. März 2011 aufgrund von Erdbeben und Tsunami bekanntlich zu einem Super-GAU, dessen Folgen bis heute nicht absehbar sind. Vier von sechs Reaktorblöcken wurden damals endgültig zerstört. In einem Radius von 20 km, später ausgedehnt auf 30 km, wurden alle Menschen evakuiert. Noch heute leben Hunderttausende in provisorischen Unterkünften, haben keine Arbeit, kein Auskommen, keine Perspektive. Die Selbstmordrate ist hoch, die Kindersterblichkeit u.a. aufgrund von rapide ansteigenden Fällen von Schilddrüsenkrebs ebenfalls.
Verharmlosung und Chaos
Yoko Kawasaki, die seit vielen Jahren in Deutschland lebt, verfolgt das Geschehen in Japan sehr genau. Zweimal war sie seit dem Reaktorunglück in Fukushima, und sie hat zahlreiche Schicksale dokumentiert: Das Krankenhaus, das bei der Evakuierung schlichtweg vergessen wurde, der Kinderhort, der seine Dekontaminierung selbst bezahlen musste, der buddhistische Mönch, der einen 500 Jahre alten Tempel aufgeben musste, weil es keine Kinder mehr gab, die er dort hätte unterrichten können. Kawasakis Geigerzähler, aus Deutschland mitgebracht, zeigt überall die doppelte Strahlenbelastung im Vergleich zu den Instrumenten der japanischen Behörden. „Seit dem Unglück wird verharmlost, wo es nur geht. Es gibt keine zuverlässigen Informationen, keine glaubwürdigen Statistiken, Eltern dürfen die ärztlichen Diagnosen ihrer Kindern nicht einsehen. Eine durchaus beliebte Devise in Japan lautet 'Wer lächelt, bleibt gesund. Wer sich Sorgen macht, der bekommt Krebs'“, so Kawasaki. „Die Behörden verkaufen die Menschen für dumm, und viele Japaner nehmen das widerstandslos so hin.“
Atomdorf Japan: The show must go on
Im Grunde, kritisiert sie, gibt es seit Jahren keinen richtigen Plan seitens der Behörden. „Die Verwaltungskräfte der Präfektur wechseln etwa alle zwei Jahre, es gibt viel Verharmlosung aber keine durchgehende Strategie, man fängt immer wieder von vorne an“, schildert Kawasaki die Problematik. „Das Atomdorf Japan funktioniert tadellos: Die Verstrickung aus Atomwirtschaft, Konzernen, Politikern und Verwaltungsbeamten ist sehr eng.“ Alles ist unter Kontrolle – das vermitteln Staat und Behörden, und viele Menschen in Japan glauben es. Oder wollen es gerne glauben, denn was tut man schon als Einzelner angesichts dieser Katastrophe. Und das Augenmerk richtet sich schon wieder auf anderes, denn schließlich naht Olympia 2020 in Tokio mit schnellen Schritten. „Die Bauindustrie ist voll und ganz mit der Errichtung von Luxusunterkünften für die Athleten beschäftigt. Da ist weder Material noch Arbeitskraft für den Bau von vernünftigen Häusern für die Opfer der Katastrophe vorhanden“, meint Kawasaki.
Von Fukushima nach Aachen
Verharmlosung, Ignorieren von Tatsachen, kein Konzept für die Zukunft, die betroffenen Menschen werden ihrem Schicksal überlassen – das ist die bittere Bilanz, die Yoko Kawasaki zieht. Und richtige Konzepte, so schlägt Oliver Krischer MdB den Bogen von Japan nach Deutschland, gibt es auch bei uns nicht, wenn wir etwa zu den belgischen Nachbarn schauen. Der Atommeiler im benachbarten Tihange, 70 km von Aachen, wird trotz zahlreicher Haarrisse im Innenreaktor und der Warnungen etlicher Experten noch in diesem Jahr wieder hochgefahren. Wenn dort ein Reaktorunglück passiert, so der Energie- und Umweltexperte der GRÜNEN, ist die Gefahr einer radioaktiven Wolke über Aachen gegeben. Da Aachen aber außerhalb der Evakuierungszone liegt, greifen keine Pläne. Selbst die rechtzeitige Verteilung von Jodtabletten, die die Entstehung von Schilddrüsenkrebs verhindern können, ist ungeklärt. „Wir müssen weiter Druck machen, damit Pannenreaktoren wie Tihange endlich vom Netz gehen und es für andere Atomreaktoren in Belgien keine Verlängerung von Laufzeiten gibt. Das müssen wir politisch auf Landes- und auch auf Bundesebene mit aller Kraft betreiben.“ Vor Ort in Aachen solle man weiterhin versuchen, mit Unterschriftenlisten und Petitionen, wie sie etwa vom Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie immer wieder vorangetrieben werden, Stellung zu beziehen und zu zeigen, dass der Widerstand gegen die Atompolitik der belgischen Nachbarn weiterhin wächst.
Relindis Becker
Der Vortrag „Wie leben die Menschen in Fukushima heute“ mit Yoko Kawasaki und Oliver Krischer am 19.11.2015 war Teil der GRÜNEN Veranstaltungsreihe „Es gibt keinen Planet B.“ im Rahmen der UN-Klimakonferenz in Paris Ende November.